Sakrale Sexualität - Mythos der Tempelprostitution

 

Oft wird im Zusammenhang mit Prostitution vom „ältesten Gewerbe der Welt“ gesprochen und zeitgleich kommt dann der Gedanke nach Tempelprostitution auf. Man kann dann regelrecht sehen wie das Kopfkino bei so manchem anspringt und in lichten Hainen mit großartigen griechisch-römischen Säulentempeln lustwandeln holde Maiden in weißen Tuniken und Fließgewändern, jene und ihr Haar nur zusammengehalten von goldenen Bändern – ebenso golden wie die Sandalen auf denen sie Lustwandeln um den geneigten Devotee der jeweiligen Göttin nur hereinzubitten in das stille Kämmerlein im hinteren Teil des Tempels um dort auf goldenen Kissen, nachdem vorher eine nicht unerhebliche Menge gemünzten Edelmetalles mit der selben Färbung den Besitzer gewechselt.... - doch halt!

Wir können daraus einen wunderbare Historien Schnulze drehen, doch mit der Realität hat das ziemlich wenig zu tun.

Also fangen wir mal ganz von vorne an, nein, nicht bei Adam und Eva, das war erst ca 600 v.u.Z. als die Patriarchen mit ihrer Geschichtsschreibung begannen.

 

Seit 2,5 Milionen Jahren gibt es Humanoide auf diesem Planeten, vor 400.000 Jahren wurde die Kontrolle über das Feuer erlangt. Der kulturelle Mensch existiert seit ca 100.000 Jahren, seitdem sind wir in der Lage unsere Toten angemessen zu bestatten und sie nicht mehr den Vögeln zum Fraß zu überlassen. Seit 40.000 Jahren gibt es künstlerisch, sakrale Darstellungen (also seit der Altsteinzeit). Die Menschen kannten Schnüre, Fäden und später auch Stoffe; Schmuck aus Steinen, Muscheln, Zähnen. Es gab Tongefäße für das alltägliche Leben, man wusste sich zu rasieren und tätowieren. Man lebte in Clans und Stämmen, die Jagd war eher ein Zeitvertreib, Fleisch machte den geringsten Anteil der Nahrung aus.

Um eine gewisse soziale Ordnung zu gewährleisten (und um der Inzucht vorzubeugen) gehörte der Nachwuchs einfach dahin wo er her kam – nämlich zur Mutter. Ob biologische Vaterschaft nun bekannt war oder ob sie schlichtweg irrelevant war – im Zentrum stand das Lebensspendende und -nährende Prinzip. Wir sehen es an den Figurinen, die uns aus dieser Zeit erhalten sind von der Venus vom Hohlen Fels (40.000 Jahre alt) bis zur Red Hair Goddess aus Serbien (6.000 Jahre v.u.Z) Es handelt sich nicht  um irgendwelche Fruchtbarkeits-Göttinnen (denn die kamen erst sehr viel später) sondern es ging um das Prinzip der Lebensspendenden Vulva.

 

Götter wurden erst viel später von den Menschen gedacht, und zwar als soziales, nicht als religiöses Phänomen! Zunächst wollte der Mann sein „Recht“ als Fruchtbarkeit Spendender gewahrt wissen, später schwang er sich dann zum alleinigen Schöpfergott auf was dann zu solch merkwürdigen Verrenkungen wie der Kopfgeburt Athenes aus dem Haupte des Zeus geführt hat. Schließlich verbot man dann generell sich überhaupt noch ein Bild von Gott machen zu dürfen. Der Beginn dieser Zeit war 10.000 v.u.Z.

Sexualität wurde in diesem Zusammenhang 8.000 v.u.Z. heilig, vorher war es anscheinend im Gesamtgefüge der Körperlichkeit mit Menstruieren und Gebären integriert. So profan und doch so wundervoll. Immanenz und Transzendenz nicht trennen zu müssen stellt uns immer noch vor schier unlösbare philosophische und theologische Herausforderungen!

 

Aber wandern wir nach Mesopotamien, der Heimat der “Hure Babylons” und somit den ältesten Zeugnissen der Menschheit zu diesem Thema:

Wir sind im gelobten Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris und wir reden hier über eine Epoche die annähernd 2.500 Jahre währte mit verschiedenen Kulturen, die ältesten die Sumerer, dann Akkader, Babylonier, Assyrer etc.

Um 3.200 v.u.Z. fand ein kultureller Wandel statt  – die Sumerer überrannten die Mesopotamier mit ihren Streitwägen, die  gerade seit 300 Jahren in Mode gekommen waren und prägten nun das Bild. Seit dieser Zeit ist uns die heilige Hochzeit, das „Hieros Gamos“ bekannt welches im Tempel gefeiert wird. Die Göttin hat nun ihren Heros. Sozialpolitisch relevant da die Priesterinnen den Königen der damaligen Zeit erst ihre Macht verliehen haben! Bekam ein politisch relevanter Mann nicht die Hochzeit mit der von ihm so begehrten Göttin-Priesterin war es auch mit der weltlichen Macht dahin.

Die Göttin ist in diesem Falle Inanna, die vielen weiteren Göttinnendarstellungen zum Vorbild generieren sollte (Ashtera, Astarte, Artemis) – zu erwähnen seien einerseits die blanken, Nahrung spendenden Brüste und die kleinen Giftschlangen, die auch noch zu späterer Zeit als Vehikel für Trancezustände zu Zwecken der Weissagung genutzt wurden. (Siehe das Beispielbild) Die Autorin Julia Assante schreibt darüber: „...we should not read sex as equating to pregnancy and motherhood, but to an irresistible power and agency.“

 

Man trennte auch nicht zwischen reiner und profaner, zwischen heiliger und sexueller Liebe. Diese Dichotomie gab es in jener Weltanschauung nicht.

In den Liebesliedern der Göttin Inanna zu Ehren ist die Rede von „da er gut war bei mir auf dem Bett“ oder „Der König (Dumuzi) näherte sich stolz ihrem reinen Schoß.... Sie liebt ihn auf ihrem Bett..“ Doch eine (riteulle) sexuelle Handlung ist ja nicht unbedingt Prostitution.

 

In diese Zeit fällt auch das Gilgamesch Epos:

Der wilde Enkidu wird auf Geheiß des Königs Gilgamesch von der Samhat (Schamchat) in die Stadt Uruk geführt. Sie initiiert ihn in die Gepflogenheiten der menschlichen Kultur. Erst mit Sprache und Sexualität, dann kleidet sie ihn ein, nimmt ihn mit zu Menschen wo es Bier gib, weist ihn in Waffenkunde ein und schließlich kommt noch der Barbier bevor sie die Stadt (und somit das neue Leben von Enkidu) erreichen.

Endikus Flüche und Segen gegenüber Samhat auf seinem Totenbett können als Ausdruck gegenüber verschiedenen Prostituierten gedeutet werden (Kurtisane vs. Straßenhure)

 

2.200 v.u.Z Enki, Gott des Wassers und des Spermas, tritt erst 1.000 Jahre nach Inanna in Erscheinung. Bis zu diesem Zeitpunkt verwalteten die Frauen in den Tempeln die Aristokratie. So gibt es Aufzeichnungen über ihre Berufe wie z.B. Bierbrauerin, allein für Priesterinnen finden sich 6 verschiedene Fachbegriffe! (Codex Hammurapi ca 1770 v.u.Z)

 

Bei den Bierbrauerinnen (ein typisch weiblicher Beruf) und ihren Tavernen finden wir ein Indiz für die (Tempel-)Prostitution. Das sumerische Wort für Taverne ist aber fast identisch mit einem Wort für einen Teil des Tempels. In den Tavernen fand man etliche Tontafeln mit Darstellungen von Liebespärchen, teilweise sehr eng umschlungen. Also Sex = Prostitution? Oder galt Bier vielleicht einfach als Aphrodisiakum mit entsprechenden heilsamen Kräften?!

Die Terracotta Tafeln mit den sexuellen(?) Darstellungen finden wir jedenfalls nicht in der näheren Umgebung von Tempeln, aber in der von Palästen und Tavernen.

 

Wir haben im alten Mesopotamien noch ein ganz anderes Phänomen. Hier, zu Beginn des Patriarchats, gab es noch die Möglichkeit seine Stellung als Frau unabhängig zu sichern, es war die sog. Hamritu. Es handelte sich hier per Definitionem um eine Frau die weder einem Vater noch einem Manne zugehörig war. Sie konnte (aber musste nicht) der Prostitution nachgehen. In jedem Falle hatte sie keinen Nachteil dadurch zu erwarten. Sie besaß die komplette Autonomie über ihre Sexualität und ihren Körper. Aber sie wurde für das sich immer weiter ausbreitende Patriarchat und seine mit Heirat zementierenden Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper zunehmend bedrohlicher.

 

Eine weitere Beschreibung ist die der Kar-Kid, es ist das sumerische Wort für Prostituierte, steht aber in keinerlei Verbindung zu Tempel oder Tempelpersonal. Trotz vielfältiger Verwaltungsdokumente gibt es keinerlei Hinweise auf Prostitution in Tempeln, dafür aber Aussagen gegen sexuelle Aktivitäten innerhalb sakraler Räume.

 

Die Tempel der damaligen Zeit waren viel mehr als das, was wir uns mit unserer Vorstellung von Kirche oder Moschee gemeinhin vorzustellen versuchen. Am ehesten sind Ausbildungszentren für z.B. nachwachsende Priesterinnen ähnlich Klöstern denkbar. Auch lebten die Priesterinnen und andere Devotees ja auch dort. Die sechs verschiedenen Begriffe für Priesterinnen lassen Rückschlüsse auf vielfältige Zuständigkeiten in diesen Tempeln zu. Es waren z.B. Kornlager und Schatzkammern dort untergebracht, noch zu späteren Zeiten gaben Könige ihr Geld in die sichere Obhut von Tempeln.

 

1.300 v.u.Z. wurde aus Inanna Ishtar, keine 300 Jahre später wurde sie als (sexbesessener) Dämon verachtet die über ihre Liebhaber Verderben bringen würde. Sehen wir hier nicht einfach den göttlichen Spiegel dessen was uns Frauen in der Gesellschaft galt? Wo war sie geblieben unsere Unabhängigkeit als Hamritu?

 

950 v.u.Z. warnt König Salomon Männer davor auf weibliche Priester hereinzufallen, zu dieser Zeit wurden JHWH und Astarte oftmals noch im selben Tempel verehrt. Es handelt sich hierbei um die im alten Testament erwähnten Quedeschen/Kadesha die der Hurerei bezichtigt wurden. Hurerei, da sie sich nicht einem Manne zugehörig fühlten und unabhängig auch ihrer (sexuellen) Wege gingen. Bis heute ein Grund um als Frau verachtet zu werden, ob nun Geld oder Tauschware dabei fließt oder auch nicht. Die Quedeschen/Kadesha waren jedenfalls keine Prostituierten. Es mag auf das ältere, sumerische Wort quadistu zurückgehen, eine der vielen Posten den Frauen als Tempel-Bedienstete im alten Babylon einnehmen konnten. Sie waren streng organisiert und lebten entweder im Zölibat oder waren verheiratet.

 

Die Quedescha oder Quadistu, die ja nun im selben Tempel ihrer Göttin huldigte wie die Patriarchen ihrem JHWH, war diesen natürlich ein absoluter Dorn im Auge.

Es ist die Zeit, als es dem männlichen Gott (als sozialer Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung des Mannes) nicht mehr gereichte der Fruchtbarkeitsgott zu sein, sondern die ganze Schöpfungsmacht für sich beanspruchen wollte.

Denn in diesen Tempeln wurde auch über das „Mysterium“ weibliche Sexualität, Empfängnis, Verhütung und Abtreibung aufgeklärt. Dies gilt in patriarchalen Gesellschaften bis heute zu unterdrücken, weswegen alles mit dem Fluch von Schmutz und Schande überzogen wurde was in diesen Bereich fällt. (Mythos „Erbsünde Eva“) Das sich die Männer letztendlich emotional damit ins eigene Fleisch schnitten und sich selbst ihrer wahren Würde beraubten sei nur am Rande erwähnt.

 

Um 800 v.u.Z entwickelten die Patriarchen von Israel eine neue Buchstabenschrift und begannen mit der Niederschrift alter Gesänge – unter dem Ausschluss der Frauen. Von nun an galt nur noch das Aufgeschriebene, nicht mehr daß seit -zig Jahrtausenden mündlich Überlieferte/Gesungene. Väter wurden angehalten daß es um jeden Preis zu verhindern gelte daß die Tochter zur Quedeschen/Kadesha würde.

 

Wir wissen nicht was genau in diesen Tempeln passiert ist, wir können nur mutmaßen. Genau so wie Geschichtsschreiber in einigen tausend Jahren unsere christlichen Tempelriten versuchen werden zu dechiffrieren. Man denke an die kirchliche Eucharistie „Mein Fleisch, mein Blut“ - Kannibalismus? Im Tempel!

 

Herodot um 450 v.u.Z. schrieb mit einer Zeitverzögerung etliche 100 Jahre später, der „seine Kultur“ als die überlegene darstellen wollte. Das für seine Begriffe nicht konforme Verhalten von Frauen war eine gute Möglichkeit eine Kultur als fremdartig zu stigmatisieren.

„Orientalismus als Negativfolie für die Konstruktion einer griechischen Idealgesellschaft“ so drückt es Daniel Lau aus.

 

Das meiste was erforscht wurde stammt aus Viktorianischer Zeit – Ägyptologie war absolut en Vogue! Aber genau so zugeknöpft und engstirnig ging man an Funde heran. Frauen im Tempel? Müssen Dienerinnen sein. Nackt? Na dann müssen es Sex-Dienerinnen sein! Ach ja, und den Testamentarischen Mythos der Hure Babylons und Herodots verfälschende Geschichtsschreibung haben wir auch noch im Hinterkopf.

Erst die neuere Forschung seit gut 30 Jahren hat angefangen die Scripte neu zu lesen und zu deuten.

 

Sowohl Hamritu (unabhängige Frau) als auch Kar-Kid (Prostituierte) war in Mesopotamien ein normaler soziale Status.

Geschenke auch für Sexualität anzunehmen war im alten Orient im übrigen nichts ungewöhnliches. Ob dies als Prostitution zu werten gilt sei dahin gestellt. Geld, wie wir es kennen, in seiner Urform als gemünztes Edelmetall gab es erst seit König Krösus, 7. Jhd. v.U.Z im Königreich Lydien.

 

Wir haben zwar ursprünglich keine Tempelprostitution, aber wir haben Tempel, wir haben Prostituierte und wir haben vor allem (noch) eines: freie, (von Männern) gesellschaftlich unabhängige Frauen, die selbst über ihren Körper und ihre Sexualität verfügen und bestimmen konnten und somit auch ganz selbstverständlich entschieden wem sie sich schenkten und ob sie sich im Gegenzug dafür etwas schenken ließen.

 

 

Literatur:

 

Assante, Julia: „Bad Girls and Kinky Boys? The Modern Prostituting of Ishtar, Her Clergy and Her Cults“ in: Scheer, Tanja S., Lindner, Martin u.a. „Tempelprostitution im Altertum – Fakten und Fiktionen“, Berlin 2009

 

Betz, Hans Dieter (Hrsg:)u.a.: „Religion in Geschichte und Gegenwart – Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft“ Band 6 S. 1722-1724

 

Bott, Gerhard: „Die Erfindung der Götter – Essays zur politischen Theologie“, Norderstedt 2009

 

Köhler, Claus: „Geldwirtschaft – Geldversorgung und Kreditpolitik“, Berlin 1977

 

Lau, Daniel: „Prostitution in Mesopotamien“ in: Jacob, Frank. „Prostitution – eine Begleiterin der Menschheit“, Fft.a.M. 2016

 

Ringdal, Nils Johann: „Die neue Weltgeschichte der Prostitution“, München 2006

 

Scheer, Tanja S., Lindner, Martin u.a. „Tempelprostitution im Altertum – Fakten und Fiktionen“, Berlin 2009

 

Strenge, Irene: „Codex Hammurapi unbd die Rechtsstellung der Frau“, Würzburg 2006

 

Weidmann, Birgit. „Die verlorene Göttin – Geschichte der Spiritualität Bd. II und III“, Hamburg 2019

 

Westenholz, Joan Goodnick: „Heilige Hochzeit und kultische Prostitution im Alten Mesopotamien“ in: Stähli, H.P. (Hrsg.) „Wort und Dienst – Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel“ 23. Band, Bielefeld 1995

 

 

Bild: Inanna als „Queen of the Night“ ggfs auch Lillith bzw Ereshkigal

 

Burney Relief, Terrakotta zwischen 1800 und 1750 v.u.Z

 

British Museum, London